Die Psychologie der Börse

Die Psychologie der Börse

Christian Thiel

Christian Thiel

11. Dezember 2022

An der Börse zählen nur Zahlen und harte Fakten. Sollte man meinen. Langfristig stimmt das auch. Kurz- und mittelfristig treibt die Kurse jedoch ein ganz anderer Faktor: Emotionen. Wie eine Schafherde rennen die meisten Marktteilnehmer stets der allgemeinen Stimmung hinterher. In meinem Beitrag aus dem September 2019 zeige ich, warum es sich lohnt, aus der Herde auszubrechen.

Das Buch „One up on Wall Street“ von Peter Lynch ist ein Klassiker unter den Finanzbüchern. Neulich habe ich es gelesen. Was habe ich daraus mitgenommen? Ich will heute nur einen einzigen Punkt hervorheben – die Psychologie der Börse.

Dass Börsenkurse nicht von optimal informierten Marktteilnehmern absolut effizient entstehen (efficient market hypothesis), das dürfe jedem, der die Kurse einzelner Aktien verfolgt, oder den Markt als Ganzes, ziemlich schnell klar werden. Menschen und ihr Verhalten folgen im Kern nicht rationalen Prozessen – sondern werden von ihren Gefühlen bestimmt.

Angst treibt die Anlegerinnen und Anleger immer wieder zu Verkäufen. Dann kommt plötzlich Euphorie auf und die Kurse kennen kein Halten mehr. Kurse werden maßgeblich von den Erwartungen der Marktteilnehmer bestimmt. Und nicht von den Fakten selber.

Langfristig setzen sich die Fakten durch

Natürlich wird ein Unternehmen wie APPLE mit stark steigenden Umsätzen und Gewinnen in den letzten zehn Jahren auf lange Sicht im Kurs steigen. Die Fakten werden sich durchsetzen. Zwischenzeitlich aber ist der Kurs der Aktie oft ein Spiel der Emotionen der Marktteilnehmer. Sind sie optimistisch, dass sich APPLEs Umsätze weiterhin erhöhen? Sind sie pessimistisch und gehen davon aus, dass APPLE den Weg von NOKIA gehen wird? Diese Fragen bestimmen den kurz- und mittelfristigen Kurs der Aktie oft viel mehr als die positive Entwicklung der Umsätze und Gewinne.

Herdentrieb an der Börse

Es lohnt, ein Contrarian zu sein

Das sieht auch Peter Lynch so. Vor allem nutzt er diese Sicht, um die großen Börsenzyklen zu erklären. Er wirft in seinem Buch einen für mich ganz spannenden Blick auf den Markt und die Erwartungen der Marktteilnehmer. Dieser Blick umspannt die letzten 90 Jahre. Lynch kommt zu folgender Erkenntnis: Der Markt hat, betrachten wir die Erwartungen der Marktteilnehmer und der professionellen Beobachter, nahezu immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was gerade von ihm erwartet wurde.

Das beginnt schon mit dem heftigen Doppelcrash der Aktien in den Jahren 1929-32 und dann noch einmal in 1936/37. Nach diesem Ereignis war der Optimismus für lange Zeit verschwunden – selbst in der eher optimistischen amerikanischen Öffentlichkeit. Das ist nicht wirklich erstaunlich. Nach zwei heftigen Abstürzen, erinnern sich die Anleger natürlich noch lange an diese schreckliche Zeit.

Kommt dir das bekannt vor?

Erstaunlich ist die Zeitdauer, für die Anlegerinnen und Anleger nun den nächsten Crash erwarteten. Nach dem Krieg warteten sie nahezu panisch auf den großen Crash. Aber der kam einfach nicht. Stattdessen folgten die goldenen 50er Jahre. Der Wohlstand stieg – die Kurse auch.

Bis in die Mitte der 60er Jahre, also für nahezu 30 Jahre, konnten sich viele professionelle Beobachter und Investoren nicht wirklich an den stark steigenden Kursen erfreuen. Sie trauten dem Frieden nicht.

Kommt dir das bekannt vor?

Erst Mitte der 60er Jahre verblasste die Erinnerung an die schwierige Zeit von 1929-1937. Anleger wurde zunehmend sorgloser. Die ersten Wirtschaftswissenschaftler vertraten die Meinung, dass moderne Volkswirtschaften ohnehin keine Rezessionen mehr zu fürchten haben. Sie seien jetzt Vergangenheit. Klingt das in deinen Ohren nach einem überbordenden und unrealistischen Optimismus? So ist es.

Kaum hatte der Optimismus sich endgültig durchgesetzt, kollabierte der Markt. Das lag nicht nur an den sorglosen Anlegern – die Ölpreiserhöhung des Jahres 1973 machte dem Optimismus ein abruptes Ende. Was folgte waren zehn harte Jahre für Aktien. Als das Tief dann erreicht war, titelte das amerikanische Magazin Newsweek über den „Tod der Aktie“. Der Pessimismus war jetzt allumfassend.

Doch kaum hatte der Pessimismus gesiegt – machte der Markt einmal mehr das Gegenteil. Er begann seinen epischen Aufstieg.

Was machte der Markt?

Er startete zu einer der längsten und ertragreichsten Rallyes, die der Aktienmarkt je erlebt hat. Sie endete erst im Jahr 2000. Auch diese Rallye war wiederum begleitet von bösen Vorahnungen der Anleger. Sie mochten dem steigenden Markt nicht vertrauen. Das änderte sich erst Mitte der 90er Jahre. Erst jetzt wurden die Anleger optimistisch. Und dann auch zunehmend euphorisch. Wir wissen, wie das geendet ist. Im Crash der Jahre 2000-2002. Kaum hatte der Optimismus sich durchgesetzt, da stürzte der Markt ab. Er machte einmal mehr das Gegenteil von dem, was allgemein erwartet wurde.

Und heute?

Kommen wir zur Jetzt-Zeit. Wir haben wiederum zwei Crashs hinter uns. Crash-Propheten verkünden beinahe im Wochentakt den nächsten schweren Absturz – der dann wiederum nicht kommt. Die Anleger wie die professionellen Beobachter finden derzeit in jeder Suppe ein Haar und suchen nach Anhaltspunkten für einen erneuten Crash – oder zumindest einen richtig heftigen Bärenmarkt. Der aber will und will nicht kommen. Gut möglich, dass das noch viele Jahre so geht. Sind die Anleger pessimistisch, ist ein Crash sehr unwahrscheinlich.

Die Bewertungen von Aktien sind derzeit historisch eher moderat. Werden Anlegerinnen und Anlegern dagegen wieder euphorisch und glauben an endlos weiter steigende Kurse, dann könnte der Markt einmal mehr das Gegenteil tun. Wann das so weit ist? Keine Ahnung. Es kann noch ein oder zwei Jahrzehnte dauern. Es kann auch in einigen Jahren schon so weit sein.

Das Depot von grossmutters-sparstrumpf bleibt weiterhin voll investiert. Die Börsenampel steht weiterhin auf grün. Sobald mir das erste Mal ein Taxifahrer einen Aktientipp gibt oder in der Schlange vor dem Postschalter vor wie hinter mir über Aktien gesprochen wird, schaltet die Ampel auf rot. Dann ist Vorsicht angesagt. Weil alle optimistisch sind.

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Gerd Kommer
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