Gerd Kommer und Christian Thiel im Gespräch

Christian Thiel

„Ich lasse die Finger von allen Aktien mit vier Rädern - mit einer Ausnahme“

Christian Thiel

Astrid Schuch

2. Februar 2025

Die wikifolio-Chefredakteurin Astrid Schuch spricht mit Christian Thiel über seine Erwartungen für das Börsenjahr 2025. Im Interview verrät Christian, in welchen Aktien er viel Potenzial sieht und von welchen er die Finger lassen würde.

Christian, 2025 läuft bislang ganz gut für die Börsen. In deinem wikifolio hältst du vorrangig US-Werte (öffentlich einsehbar auf wikifolio.com). Wie schätzt du die Aussichten für US-Aktien im weiteren Jahresverlauf ein?

Das ist schwer einzuschätzen. Die Wahl von Donald Trump hat die Politik unberechenbarer gemacht. Und das wird sich möglicherweise auch an den Börsen zeigen. Am langen Ende aber geht es an der Börse um die Gewinne der Unternehmen. Die sollen 2025 für amerikanische Unternehmen um rund 12 Prozent steigen. Es könnte also ein weiteres gutes Jahr für die US-Börsen werden. Oder die Börse verdaut erst einmal den starken Anstieg von 2024 und läuft mehr oder weniger seitwärts. Aber das wäre in meinen Augen kein Beinbruch, denn damit kämen die hohen Bewertungen vieler Unternehmen dort ein wenig nach unten.

Gemessen an der „America first“-Politik von Donald Trump müssten die US-Börsen eigentlich stärker performen als die europäischen, zumal der neue US-Präsident der EU ja auch mit neuen Zöllen droht. Darüber hinaus läufts in den USA wirtschaftlich besser als in Deutschland – die deutsche Wirtschaft ist zwei Jahre infolge leicht geschrumpft. Warum also kann der Dax zuletzt die US-Indizes outperformen?

Deutsche Aktien sind sehr billig und den Unternehmen im Dax geht es ja nicht schlecht. Sie erwirtschaften ihr Geld oft international. Aber ich bin kein Experte für deutsche Aktien. Ich habe bei deutschen Werten nur Eventim im Depot. Und mit der bin ich mehr als zufrieden. Der Bereich Live-Events hat in den letzten Jahren geboomt. Das Geld ist ganz offensichtlich da – trotz aller Klagen.

Mit dem Projekt „Stargate“ hat Trump Investitionen von insgesamt 500 Milliarden Dollar in den Ausbau Künstlicher Intelligenz angekündigt und dafür die Spielregeln für die Unternehmen gelockert. Fängt damit der Börsenhype rund um KI erst so richtig an?

Mit Stargate ist es wie mit allen Ankündigungen von Trump in seiner ersten Amtszeit: Ohnehin geplante Investitionen werden als ein Deal von Donald Trump vorgestellt, um die Wählerschaft zu beeindrucken. Diese Form von PR-Politik wird die kommenden vier Jahre beherrschen. Der Abbau von Regeln für die Entwicklung von KI ist dagegen real, kann aber auch zu erheblichen Problemen führen.

Unter Vorgänger Biden mussten KI-Entwicklungen, die eine Gefahr für die nationale Sicherheit, die Wirtschaft oder die öffentliche Gesundheit darstellen könnten, auf ihre Risiken hin geprüft werden. Das hat Trump nun widerrufen - obwohl namhafte Experten vor den Gefahren durch KI warnen. Wie schätzt du diese Entwicklung ein?

Schwer zu sagen. Die Gefahren von KI verschwinden nicht, nur weil Donald Trump und Elon Musk nicht wollen, dass sie genau untersucht werden. Grundsätzlich aber ist KI nicht aufzuhalten. Ehrlich gesagt besteht mein Depot mit Apple, Nvidia, Amazon, Taiwan Semiconductor Manufacturing zu einem ganz erheblichen Teil aus Werten, die von KI wohl profitieren werden. Auch bei Aktien wie John Deere, Intuitive Surgical, Mastercard oder Booking ist das so.

„Windenergie ist in den USA sehr populär – auch in der eigenen Wählerschaft von Donald Trump. Windanlagen liefern sehr günstigen Strom und sind zum Beispiel in Texas für konservative Landbesitzer eine hervorragende Einnahmequelle.“

Trump hat außerdem den Bau neuer Windkraftanlagen vorerst ausgesetzt. Gerade die Tech-Konzerne brauchen aber jede Menge Energie, um KI weiterzuentwickeln. „Drill, baby, drill“ for the win? Kann das alles sein?

Trump wurde schon in seiner ersten Amtszeit stark von der Ölindustrie finanziert. Windenergie ist in den USA allerdings sehr populär – auch in der eigenen Wählerschaft von Donald Trump. Windanlagen liefern sehr günstigen Strom und sind zum Beispiel in Texas für konservative Landbesitzer eine hervorragende Einnahmequelle. Die werden sich von Donald Trump nicht reinreden lassen. Trump kann die Entwicklung zu Clean Energy verlangsamen. Das ist auch sein Ziel. Aufhalten kann er sie aber nicht. Für Aktieninvestments ist das allerdings alles eher zweitrangig. Clean Energy ist eine tolle Sache – aber als Aktieninvestment eher grauenhaft. So liegt zum Beispiel der iShares Global Clean Energy ETF seit Auflage im Juli 2007 fast 60 % im Minus (per 30.01.2025).

Gerd Kommer

Chart: Clean Energy ETF

Big Tech ist in deinem Depot prominent vertreten. Apple und Netflix sind derzeit deine größten Positionen. Gerade Netflix hat ganz aktuell tolle Nutzerzahlen geliefert. Die Aktie konnte zweistellig zulegen. Warum läuft's bei Netflix so gut und geht da noch was?

Netflix hat den Streaming War gegen Disney klar gewonnen. Sie sind die Nummer eins und Disney bleibt auf absehbare Zeit die Nummer zwei. Dabei habe ich YouTube allerdings noch nicht berücksichtigt. Netflix orientiert sich an der screen time und vergleicht sich deshalb auch mit YouTube. In diesem Vergleich liegen die beiden derzeit mit jeweils rund zwei Stunden screen time pro Tag in den USA gleichauf. Netflix hat noch eine Fülle an Wachstumschancen, Live-Sport gehört dazu. Gaming auch. Ich traue es dem Unternehmen zu, dass es 2030 zu den wertvollsten und mächtigsten Unternehmen der Welt gehört.

„Apple wächst allerdings im Bereich der Services, die es anbietet deutlich stärker als beim iPhone. Und je mehr Menschen ein iPhone haben, desto mehr verdient Apple beim Service.“

Deine Top-Holding Apple ist Stammgast in deinem Depot. Wo kommt das Wachstum des iPhone-Konzerns in Zukunft her? Marktbeobachter bezweifeln, dass es vom iPhone kommt. Wovon dann? KI?

Zunächst einmal ist bisher noch jede Voraussage, dass das iPhone vom Umsatz her gar nicht mehr wächst, nach einiger Zeit von der Realität überholt worden. Der Marktanteil von Apple im Bereich Smartphone wächst seit vielen Jahren. Da die Welt reicher wird (auch wenn das hier in Deutschland derzeit niemand glaubt – hier ist man abgrundtief pessimistisch), haben Menschen mehr Geld, um sich einen bescheidenen Luxus zu erlauben. Zu diesem bescheidenen Luxus gehört Netflix, um die es gerade ging. Und eben auch Apple.

Auch in den nächsten Jahrzehnten dürfte die weltweite Mittelschicht größer werden. Und sie wird sich ein iPhone gönnen. Apple wächst allerdings im Bereich der Services, die es anbietet deutlich stärker als beim iPhone. Und je mehr Menschen ein iPhone haben, desto mehr verdient Apple beim Service. Ich bin bei Apple also die Ruhe selbst. Und angesichts der irren Gewinne, die sie machen (und durch Aktienrückkäufe an die Aktionäre ausschütten) ist es auch ganz einfach, hier ruhig auf weiter steigende Aktienkurse zu setzen. Allerdings würde ich nicht ausschließen, dass Nvidia oder Netflix stärker wachsen als Apple und bald die Nummer eins im Depot sind.

Trump hat für eine Bitcoin-Rally gesorgt und dann auch noch einen Meme-Coin herausgebracht – wie siehst du die Entwicklung im Bereich der Kryptowährungen?

Klingt nach Casino-Kapitalismus, zumindest was diese Meme-Coins angeht. Ich gehöre beim Bitcoin ja zu den Skeptikern. Aber die Kurssteigerungen beim Bitcoin sind natürlich eindrucksvoll. Es bleibt allerdings ein Asset, das keinen Cashflow generiert. Ich habe deshalb wenig Vertrauen in den Bitcoin.

Kurz zur politischen Lage in den USA, aber auch in Europa: Wie gefährdet sind Demokratie und Rechtsstaat in deinen Augen? Bauen sich die rechten Milliardäre Trump und Musk mithilfe von Social Media eine Welt, wie sie ihnen gefällt?

Sie versuchen es. Elon Musk baut an einer Internationale der rechtspopulistischen, rechtsextremen und faschistischen Parteien in Europa. Das ist seit einigen Monaten klar und spätestens sein Hitlergruß bei seiner Rede zur Amtseinführung von Donald Trump hat das noch einmal bestätigt. Ja, das gefährdet die Demokratie in Europa. Elon Musk bezieht grundsätzlich die gleichen Positionen, die auch russische Trolle bei ihrer Beeinflussung von politischen Prozessen in Deutschland beziehen. Wir werden also gleich zweifach unter Druck gesetzt. Ob dieses Bündnis von Trump und Musk hält, das ist allerdings mehr als fraglich. Ich gehe davon aus, dass es Ende des Jahres bereits Geschichte ist. Trump ist ein eiskalter Machtpolitiker – alles was er macht dient ausschließlich seinen eigenen Interessen. Dabei darf Elon Musk derzeit eine Rolle spielen. Noch.

„Darauf, ob die Aktienmärkte ein gutes oder ein schlechtes Jahr haben werden, habe ich ja keinen Einfluss. Zufrieden wäre ich also auch mit Null Prozent in 2025 – sofern es mir gelingt, den Abstand gegenüber dem MSCI World zu vergrößern.“

Was kann Europa tun, um wirtschaftlich nicht noch weiter abgehängt zu werden? Und wie kann die EU verhindern, dass sie aufgrund rechter antieuropäischer Kräfte politisch zwischen Russland und den USA aufgerieben wird?

In Dresden baut TSMC derzeit seine erste europäische Chipproduktion. Das ist schon mal ein Anfang. Aber ganz ehrlich: So lange Konservative und Freidemokraten in Deutschland in erster Linie keine Schulden wollen – die USA aber wie verrückt investieren, auch mithilfe von Schulden, so lange wird es Europa schwer haben, den Anschluss zu finden. Am langen Ende ist es die sinnlose deutsche Fiskalpolitik, die es auch all seinen Nachbarn schwer macht.

Auf Jahressicht hat dein Depot weit über 30% zugelegt. Jetzt aber ehrlich: Nochmal 30%, auch in den kommenden 12 Monaten werden sich aber nicht ausgehen, oder? Womit wärst du zufrieden?

Ich denke ja langfristig. Das öffentlich geführte Depot bei wikifolio hatte gerade seinen neunten Geburtstag. Seit Beginn hat es (Stand: 30. Januar 2025) um 259 Prozent zugelegt. Der MSCI World, mit dem ich mich vergleiche, hat es (als ETF in Euro und inklusive Dividenden) auf 204 Prozent gebracht. Mein Ziel ist es, diesen Abstand weiter zu vergrößern.

Darauf, ob die Aktienmärkte ein gutes oder ein schlechtes Jahr haben werden, habe ich ja keinen Einfluss. Zufrieden wäre ich also auch mit Null Prozent in 2025 – sofern es mir gelingt, den Abstand gegenüber dem MSCI World zu vergrößern. Das ist in 2024 in erster Linie mit Chipaktien geglückt und mit Netflix. Gut möglich, dass das auch 2025 wieder so kommt.

Was lässt dich optimistisch auf die nächsten Monate blicken? Wo siehst du für Aktionäre besonderes Potenzial? Wovon würdest du die Finger lassen?  

Ich schaue derzeit nur auf zwei Aktien um zu sehen, ob sie ins Depot passen: Uber und Lyft. Das sind zwei gut aufgestellte Plattform-Unternehmen der Internetökonomie, die in den nächsten Jahren die größte Rolle im Bereich autonomes Fahren spielen könnten. Die Internetökonomie ist nach wie vor die erste Liga für erfolgreich Aktien. Wobei es fast korrekter wäre zu sagen: Die Smartphone-Ökonomie. Ich weiß gar nicht, ob Uber und Lyft überhaupt über meinen PC funktionieren. Es würde mich aber sehr wundern, wenn das ginge. Das Smartphone verändert eine Vielzahl von Gewohnheiten, nach wie vor ist das so. Und nach wie vor ist bei diesen Geschäftsmodellen für Anlegerinnen und Anleger am meisten zu holen.

Die Finger lassen würde ich von allen Aktien mit vier Rädern (außer John Deere). Die deutsche Autoindustrie erlebt schwere Zeiten, aber auch Tesla verliert derzeit deutlich Marktanteile. Das kann sich angesichts des politischen Engagements von Elon Musk in den USA wie in Europa noch deutlich ausweiten. Die Gewinner heißen in dem Fall: VW, BMW, Mercedes, General Motors und BYD. In ein paar Jahren sind die deutschen Autobauer wieder obenauf – aber ein gutes Langfristinvestment sind sie in meinen Augen trotzdem nicht.

Das Interview wurde von Astrid Schuch geführt und ist zuerst auf den Seiten von wikifolio erschienen.

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Gerd Kommer und Christian Thiel im Gespräch

Gerd Kommer und Christian Thiel 

„Die Renditen der letzten Jahre sind langfristig nicht wiederholbar“

Christian Thiel

Christian Thiel

29. November 2022
Im Gespräch mit der Kleinen Finanzzeitung erklärt Dr. Gerd Kommer warum in den kommenden Jahren niedrigere Renditen zu erwarten sind und weshalb Aktien trotzdem langfristig die beste Wahl sind und wie die Zukunft des Bitcoin aussehen könnte.

Christian Thiel: Wir beide haben uns in London im Juni 2016 kennengelernt, kurz vor dem Brexit-Votum der Briten. Ich weiß noch wie du damals gesagt hast, dass die Overperformance in meinem Depot auch reines Glück sein kann.

Gerd Kommer: Das ist oft so. Oft ist es tatsächlich Glück.

Nun habe ich seit 2016 eine Overperformance. Natürlich bin ich stolz darauf. Aber ich muss schon sagen: Die letzten zwei Jahre waren schwierig für mich und meine Aktien. Man wird sehen, ob ich jetzt dauerhaft dem MSCI World hinterherlaufe – das kann ja auch passieren. Dann werde ich in ETFs umschichten. Das habe ich so angekündigt. Oder wir haben gerade eine Börsenphase, in der meine Aktien nicht so gut laufen.

Tröste dich – Ausrufezeichen – niemand, auch nicht Gerd Kommer, Ray Dalio oder Warren Buffett, niemand kann und wird eine Benchmark wie den MSCI World in jedem Kalenderjahr oder in jedem Drei-Jahres-Zeitfenster immer schlagen. Das ist unmöglich und das ist auch kein realistisches Ziel. Dass du als tech-lastiger Investor von den Rücksetzern der letzten Monate im Tech-Bereich besonders betroffen bist, das ist ja nicht überraschend.

Du hast ein neues Buch geschrieben, natürlich wieder zu ETFs. Du bist in meinen Augen derjenige, der in Deutschland im Alleingang den ETF populär gemacht hat, wenn man überhaupt von populär sprechen darf, denn nach wie vor sind ja viele Menschen in Deutschland sehr skeptisch, wenn es um Aktien geht. Die erste Frage wäre deshalb. Warum eigentlich Aktien? Was ist dein Hauptargument für Aktien?

Die Anlageklasse Aktien ist die rentabelste Anlageklasse unter allen für Privatanleger verfügbaren Anlageformen. Es gibt Anleihen bzw. zinstragende Investments. Es gibt zweitens als Alternative zu Aktien noch Immobilien. Aktien sind auf lange Sicht eindeutig rentabler als Anleihen und rentabler als Immobilien. Nebenbei bemerkt: Sie sind auch sehr viel pflegeleichter als Direktanlagen in Immobilien.

„Günstige Zeiträume für eine Anlageklasse herauszupicken ist keine vernünftige Analysebasis, sondern Kindergarten-Investing.“

Da muss ich jetzt aber etwas ironisch widersprechen. Das weiß doch derzeit jeder, dass Immobilien das allerbeste sind. Du musst doch nur die letzten Jahre nehmen, dann siehst du doch, was für hohe Gewinne da zu machen sind. Das sind zweihundert bis dreihundert Prozent bei mir in der Straße in der ich wohne.

Da sind wir beim Thema Rosinenpicken, also den entsprechenden Zeitraum zielgerichtet günstig auszuwählen. Wenn ich das darf, dann kann ich mit Tulpenzwiebeln, Hosenknöpfen, mit Tretrollern, historischen Musikinstrumenten, mit neuseeländischen Ackerflächen, mit bestimmten Kryptowährungen, mit gehebelten Short-ETFs auf den DAX und mit esoterischen Aktien auf kanadische Kleinstminenbetreiber eine phänomenale Outperformance produzieren. Günstige Zeiträume herauszupicken, das ist kindisch. Das ist keine vernünftige Analysebasis, sondern Kindergarten-Investing. Aber so argumentieren manche Immobilienanleger in den letzten Jahren leider sehr gerne.

Was für Immobilien spricht, das ist die Unterstützung durch die Politik. Sie fördert Immobilien ganz anders als Aktien. Wenn ich eine Immobilie kaufe und mit hohem Gewinn verkaufe, dann habe ich gute Chancen, nie auch nur einen Cent Steuern dafür zahlen zu müssen. Davon kann man als Aktionär nur träumen.

Ja, Wohnimmobilien und ganz besonders selbstgenutzte Wohnimmobilien werden in Deutschland und in einigen anderen Ländern, steuerlich sehr stark begünstigt. Ein Land in dem das nicht der Fall ist, das ein faires, vernünftiges, rationales Steuersystem für alle Vermögensanlagen, das ist die Schweiz.

Gerd Kommer

Gerd Kommer 

Du bist sehr stark für die Anlage in ETFs und je länger ich mich mit der Geldanlage beschäftige, desto skeptischer werde ich gegenüber jeder Outperformance durch Einzelwerte. Die allermeisten Menschen, die das versuchen, schaffen es ohnehin nicht. Sie hinken dem Index hinterher. Das Problem bei ETFs ist allerdings die Langeweile. Ich weiß noch, wie du damals in London zu mir gesagt hast, die Anlage von Geld in einen ETF das ist so wie seine Schwester zu küssen oder Farbe beim Trocknen zuzuschauen.

Das letzte trifft es ziemlich gut. Wenn Menschen in Aktien anlegen, dann wollen nach meinem Eindruck viele Einzelaktien – damit was los ist, damit sie mit dem Investment eine Story verknüpfen können. Dieser Entertainment-Charakter ist vielen Menschen wichtig. Und auch, dass sie sich mit ihren Investments identifizieren wollen. Wenn ich ein iPhone habe und mir eine Apple-Aktie kaufe, das ist in gewisser Weise ein emotionales Erlebnis. Ich benutze das Produkt. Und dann habe ich auch noch die Aktie dazu.

„Passiv anzulegen mit ETFs ist nicht besonders sexy.“
Das ist natürlich bei einem ETF ganz anders. Ein ETF ist ein anonymes und abstraktes Anlageprodukt. Man kann da keine Geschichten drum herum weben. Ein bisschen ändert und verkehrt sich dieses Phänomen allerdings in den Phasen, in denen der Markt dauerhaft nach unten geht. Dann führen Einzelaktien auch zu mehr Stress und gelegentlich Abneigung. Aber im Allgemeinen hast du Recht: Passiv anzulegen mit ETFs ist nicht besonders sexy.

Kann aber sehr hohe Gewinne bringen. Auf Sicht von zehn Jahren sind wir beim MSCI World als ETF in Euro und inklusive Dividenden bei 11,4% Rendite pro Jahr. Das ist eine extrem hohe Zahl. Das kann doch nicht so bleiben. Ist damit zu rechnen, dass die nächsten zehn Jahre deutlich niedrigere Zahlen bringen werden?

Ja, das ist in meinen Augen nicht abwegig. Die letzten zehn bis zwölf Jahre, also der Zeitraum ab 2009 brachte phänomenal hohe Renditen für fast jedes Teilsegment des globalen Aktienmarktes. Hinzu kommt, dass die Inflation in diesen zwölf Jahren im historischen Vergleich besonders niedrig war, jedenfalls für den Gesamtzeitraum. Wenn wir uns also die Realrenditen anschauen, dann ist die Abweichung zum langfristigen Mittel, die du hervorgehoben hast, sogar noch stärker.

„Der globale Aktienmarkt hat in den letzten 120 Jahren zwischen fünf und sechs Prozent Rendite gebracht – nach Inflation.“

Man muss jetzt nur 1,5 Prozent aus den genannten Zahlen herausrechne. Mehr Inflation gab es nicht in diesem Zeitraum. Das laufende Jahr habe ich dabei nicht berücksichtigt. Damit kommen wir beim MSCI World auf eine Realrendite, also die Rendite nach Abzug der Inflation, von fast 10 Prozent. Ich sage es noch einmal: Das kann so nicht weitergehen.

Absolut. Wenn man sich die letzten 120 Jahre für den weltweiten Aktienmarkt anschaut, dann hat der globale Aktienmarkt irgendwo so zwischen fünf und sechs Prozent gebracht – nach Inflation. Das ist gleichzeitig die höchste Rendite aller Assetklassen über diesen Zeitraum gewesen. Es ist höher als Anleihen, höher als Immobilien, höher als Gold, höher als Rohstoffe.

Reale Renditen pro Jahr von 1900 bis 2021
(Total Returns inkl. etwaiger Ausschüttungen, ohne Kosten und Steuern)

Fünf bis sechs Prozent pro Jahr als reale Rendite – das ist das, was man auf sehr lange Sicht von der rentabelsten Assetklasse der Welt erwarten kann. Und wenn wir in den letzten zwölf oder dreizehn Jahren fast das Doppelte hatten, wie du gerade vorgerechnet hast, dann ist das in der Form langfristig nicht wiederholbar.

Wenn man sich vergegenwärtig, dass die Weltwirtschaft in den letzten 120 Jahren real mit rund 3% p.a. gewachsen ist – pro Kopf nur etwa die Hälfte – dann sollten diese Größenordnungen eigentlich überhaupt nicht überraschend sein, denn nur aus dieser Weltwirtschaft, aus nichts anderem, kann sich die Rendite von Vermögensanlagen über alle Anlageklassen hinweg speisen.

Bei einer nominalen Rendite von 5-7% per annum in den nächsten zehn Jahren und einer deutlich höheren Inflation als in den letzten zehn Jahren, erwartet uns möglicherweise eine reale Rendite von nur noch 2-4%. Ich habe das in der Facebook-Börsengruppe der Kleinen Finanzzeitung neulich mal geschrieben. Einige Mitglieder waren von den Zahlen regelrecht entsetzt.

Parallel las ich gerade das schöne Zitat von Walter Bagehot, der lange Jahre den britischen Economist herausgegeben hat. Bagehot hat schon 1852 gesagt, dass John Bull, damit ist der gutsituierte englische Anleger gemeint, John Bull kann eine Menge aushalten, aber was er nicht aushalten kann – das sind zwei Prozent. Eher würde er sein Geld in einen Kanalbau nach Kamtschatka anlegen. In irgendwas völlig Unmögliches oder Abstruses also. Viele Menschen können so niedrige Renditen nur sehr schwer aushalten.

Völlig richtig. Die allermeisten Menschen, die bewusst als Privatanleger wahrnehmen, brauchen für die Stabilität ihres Weltbildes ein Renditeziel, das mindestens hoch einstellig, besser zweistellig ist. Wenn ihnen irgend ein Quacksalber das verspricht, dann lassen sie sich auf den schlimmsten denkbaren Quatsch ein. Geschlossene Fonds in Deutschland sind ein Beispiel.

Letzter Punkt: Der Bitcoin. Ich gehöre zu den Bitcoin-Skeptikern. Wie siehst du das?

Ich bin ebenfalls ein bekennender Krypto-Skeptiker. Die Funktionen die eine Währung haben soll – Zahlungsmittel zu sein und Wertspeicherfunktion und Recheneinheit – die erfüllt der Bitcoin nicht. Besonders gut sieht man es an der Zahlungsmittelfunktion. Sie liegt beim Bitcoin im subatomaren Bereich. Einen Wert aufzubewahren ist mit dem Bitcoin auch schwer, dazu ist sein Preis viel zu volatil.

„Mit einem MSCI All Country World ETF kann man in aller Ruhe anfangen – zum Beispiel mit einem Sparplan.“
Die endgültige Entscheidung was aus dem Bitcoin wird, steht aber derzeit noch aus. Den Bitcoin gibt es erst seit 13 Jahren. Das ist sehr, sehr kurz. In meinen Augen steht aber fest: Die westlichen Staaten und Regierungen werden nicht zulassen, dass ihnen eins von den zwei Hauptinstrumenten der Wirtschaftspolitik und damit auch Sozialpolitik aus der Hand genommen wird. Ein Instrument ist die Fiskalpolitik, das was der Staat ausgibt. Das zweite ist die Geldpolitik, in dem der Staat das Zinsniveau und die Inflation beeinflusst. Freie Währungen, auf die der Staat keinen Einfluss hat, würden dem Staat die geldpolitische Kompetenz wegnehmen. Das wird meines Erachtens nicht kommen. Weil Kryptowährungen bisher volkswirtschaftlich bedeutungslos waren und weil sie aus einer staatlichen Beobachterperspektive interessant sind, hat man sie bis dato toleriert.

Zum Abschluss wollte ich dich noch nach deinem Tipp für all diejenigen fragen, die es sich einfach machen wollen. Ich habe gestern in der Kleinen Finanzzeitung gelesen, dass ein Mitglied dich in einem Café in München bei einem YouTube-Interview gesehen hat. Und dein Tipp sei gewesen, den MSCI All Country Index zu kaufen.

Ja. Der MSCI All Country World Index, abgekürzt MSCI AWCI oder ACWI IMI ist noch ein bisschen breiter aufgestellt als der MSCI World. Damit kann man in aller Ruhe anfangen – zum Beispiel mit einem Sparplan auf diesen ETF.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch mit Dr. Gerd Kommer gibt es in längerer Form auch als Podcast. Du findest es hier:

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